Kapitel 01

Allein

 

Berge, Berge, Schnee und Kälte. Seit gefühlten Jahrhunderten bin ich schon unterwegs. Ich wurde verbannt. Ich bin schon so lange unterwegs.

 

Es wird Abend und ich beginne mich nach einem geeigneten Rastplatz umzusehen. Ich könnte zwar durchaus die ganze Nacht  laufen, doch das ist mir wegen der vielen Orks, die hier leben, zu gefährlich. Nach einiger Zeit entdecke ich einen Felsvorsprung, der so aussieht als könnte er mich vor Wind und Regen schützen.

 

Er sieht zwar nicht allzu gemütlich aus, aber für eine Nacht wird es reichen und es ist besser, als ungeschützt auf einem Schneefeld zu übernachten. Also gehe ich hin und durchsuche meine potenzielle Unterkunft nach Gefahren. Nachdem ich nichts gefunden habe, setze ich mich hin und bemerke nun, wie stark die lange Reise, die Angst, die ständige Wachsamkeit aber vor allem die Entbehrungen und die Kälte meine Kraftreserven verbraucht haben. Ich fühle mich so schwach, dass ich am liebsten einfach die Augen schließen und nie wieder öffnen würde. Doch mein Geist wehrt sich dagegen. Ich will weiterleben! Es gibt noch Hoffnung für mich! Also rappele ich mich wieder auf und packe aus, was ich für die Nacht brauche: meine Decke, die aussah, als hätte sie schon existiert als meine Ur-Ur-Ur-Großmutter geboren wurde und voller Löcher war. Außerdem war sie voll Schnee dank des Schneesturms der mich überrascht hatte. Ich bin ja eigentlich nicht mäklig, aber das Ding war ein Albtraum und würde mich gewiss nicht warmhalten.

 

Außerdem habe ich noch ein wenig Brot, das ebenfalls so aussah, als wäre es bereits einige Jahre alt. Zuletzt löse ich noch meine Feldflasche von meinem Gürtel, die zum Glück keine Löcher hat. Dummerweise ist das Wasser darin gefroren. Das ist, außer meinen Waffen, die immer in tadellosen Zustand sind, alles, was ich habe. Ich seufze. Langsam wie ein Schlafwandler strecke ich meine Hand nach meinem Knochenbogen, den mir mein Vater schenkte, aus. Als ich ihn in der Hand halte und über die glatte Oberfläche streiche, erinnere ich mich daran, wie mein Vater ihn mir bei meinem Aufbruch gab. Ich schließe die Augen und lasse mich von meinen Erinnerungen überrollen.

 

D

 

Ich öffne vorsichtig die Augen als ich den gleichmäßigen Atem meiner Eltern höre. Ganz langsam drehe ich mich auf die Seite, um mich zu vergewissern, ob sie auch wirklich schlafen. Es scheint so. Immernoch darauf bedacht, keine Geräusche zu verursachen, stehe ich auf. Ich erschrecke als ich höre, wie sich jemand bewegt. Doch meine Eltern schlafen noch. Als ich mich wieder umdrehe, blicke ich direkt in die dunklen Augen Ohitikas, unserem treuen Wolfshund. Nach zwei-drei Wimpernschlägen habe ich mich wieder beruhigt und gehe auf ihn zu, um auch ihn mit einer kurzen Streicheleinheit zu beruhigen. Er winselt fragend und ich gebe dem Tier schnell ein Zeichen, still zu sein, worauf hin Ohitika sich darauf beschränkt, mich fragend anzusehen. Ich schüttle bloß den Kopf und sammle schnell meine Sachen ein, die ich schon am Vorabend gepackt habe und gehe hinaus.

 

Ich war erst ein kleines Stück gelaufen, als ich hörte, wie sich der Eingang unseres Tipis öffnete. Als ich mich daraufhin umdrehe, sehe ich Tokei-ihto, meinen Vater.

 

„Wolltest du gehen, ohne dich zu verabschieden?“, fragt er mich und ich glaube einen gekränkten Unterton zu hören. Ertappt senke ich den Kopf „Ja, ich wollte nicht, dass euch der Abschied noch schwerer fällt. Zudem habe ich befürchtet, ich könnte es nicht übers Herz bringen, zu gehen, wenn ich euch traurig sehe“, gestehe ich leise, fast flüsternd. Verständnisvoll sieht mich mein Vater an und fragt: „Kommst du trotzdem noch einmal mit rein?“ „Natürlich, Vater!,“ antworte ich schnell und folge ihm zurück ins Tipi.

 

Auch Mutter ist wach und sieht mich traurig an. Schnell senke ich den Blick. Ich kann diesen verletzen Ausdruck in ihren Augen nicht ertragen. „Es macht uns traurig, dass du gehst. Doch Tokei-ihto hat etwas für dich. Es ist sehr wertvoll. Gib darauf acht, verlier es nicht!“, sagt Sitopanaki (deren Füße singen, wenn sie geht), meine Mutter. Sie hat eine leise, sanfte Stimme, bei der man sich nicht vorstellen kann, wie schneidend sie klingen kann, wenn ich mal wieder etwas angestellt habe.

 

Doch heute ist sie voller Trauer. Ich nicke. Niemals würde ich etwas verlieren, was Vater mir gibt, selbst wenn es ein Kieselstein wäre. Gespannt beobachte ich, wie er zu der Stelle ging, an der er seine Waffen lagerte. Die zahlreichen Waffen, die an der Zeltplane befestigt wurden, sind Beutestücke, die Vater besiegten Feinden abnahm und werden nicht genutzt. Er nahm die wertvollste seiner Waffen in die Hand: Den Knochenbogen. Er wurde aus einem Stück gefertigt und niemand weiß, woher er stammt. Der Bogen war ein Geschenk von dem Häuptling der Pani (Pani = Schwarzfüße). „Nimm meinen Bogen, Sureto, du weißt, wie gut er ist! Er ist ein würdiges Geschenk für dich und eines, das du noch brauchen wirst.“ Ich muss ein merkwürdiges Bild abgegeben haben, wie ich ihn mit offenem Mund anstarre und gleichzeitig Tränen in den Augen habe. Als ich mich wieder aus meiner Starre lösen kann, falle ich Harka (der Jungenname von Tokei-ihto) um den Hals und bedanke mich unter Tränen. „Nun ist es Zeit, dass du gehst, mein kleiner Sturmwind“, sagt mein Vater leise mit verräterisch heiserer Stimme. Langsam nicke ich, umarme ihn noch einmal, gehe zu Mutter und verabschiede mich auf die gleiche Weise auch von ihr. Dann gehe ich hinaus zur Koppel, wo mir Schotaker laut wiehernd entgegengaloppiert kommt. Ich begrüße den treuen Hengst, indem ich kurz sanft meine Stirn an seine lehne. Er trägt, wie es bei Indianern üblich ist, nur einen Kinnriemen, an welchem die Zügel befestigt sind, und eine, durch einen Gurt an Ort und Stelle gehaltene Decke. Geschickt schwinge ich mich auf seinen Rücken und treibe ihn mit einem lauten Schrei an. Schotaker steigt kurz und galoppiert los. Von fern hörte ich noch Thaske, der wie ein Bruder für mich ist, rufen: „ Pass auf dich auf!“ Dann waren wir auch schon außer Hörweite.

 

D

 

Ich öffne die Augen und betrachte noch einmal den Bogen. Dann lege ich ihn beiseite und beginne damit, ein Feuer zu entfachen. Es ist ziemlich schwierig, da das Holz vereist ist, aber letzten Endes gelingt es mir doch und mit einigen Techniken, die jedes Kind der Dakota beherrscht, sorge ich dafür, dass es nicht so sehr qualmt und mich dadurch verraten könnte. Ich breche mir ein kleines Stück vom Brot ab und dachte an Schotaker. Ich erinnere mich noch deutlich an den Tag, als ich ihn das erste Mal sah.

 

Ich war auf der Jagd und ritt gerade zurück mit dem erlegten Hirsch, als ich ein lautes Wiehern hörte. Als ich mich umsah, erblickte ich auf dem Bergkamm ein steigendes Pferd. Kurz darauf ließ sich der Mustang wieder auf alle Viere nieder und galoppierte mit einem unglaublichen Tempo davon. Die ganze Zeit nahm ich ihn nur als eine schwarze Siluette vor dem Sonnenuntergang war.

 

Der Dorfvorsteher hatte ihn fortbringen lassen bevor sie mich verbannten, weil sie herausfanden, dass ich eine Halbelbin bin. Ich wollte einen kleinen Jungen retten, der in einen Brunnen gefallen war. Dabei verrutschte das Stirnband, das ich trug, um meine Ohren zu verdecken. Daraufhin griffen sie mich an und ich war der Todesstrafe nur um ein Haar entgangen.

 

Ich seufze noch einmal. Hoffentlich geht es Schotaker gut.

 

Ja, ich bin eine Halbelbin. Mein Vater ist ein Halb-Tawarwaith und meine Mutter eine Halb-Noldo. Ich habe blau-schwarze Haare und ich habe grüne Augen wie meine Großmutter. Das behauptet jedenfalls mein Vater. Ich selbst habe sie nie kennengelernt, da sie erschossen wurde, als mein Vater noch ein Kind war. Als ich den Kopf wieder hebe, spüre ich etwas Feuchtes auf meiner Wange - eine Träne. Ich spüre, wie sie sich von meinem Kinn löst und noch im Fallen gefriert. Als sie schließlich auf dem Boden aufschlägt, zersplittert sie in tausend kleine Stücke. Ich verdränge die Erinnerungen und richte meine Aufmerksamkeit wieder auf die Umgebung.

 

Erschrocken stelle ich dabei fest, dass die Sonne schon beinahe untergegangen ist. Ich muss mir diese ständige Grübelei abgewöhnen, sonst wird sie nochmal mein Untergang! Ein weiteres Mal seufzend richte ich mein Nachtlager her, was heißt, dass ich mich in die löchrige Decke wickle. Ich schlafe, wie alle Elben, mit offenen Augen. Mein letzter Gedanke, bevor ich einschlafe, ist: Ich wollte ein Abenteuer, ich habe eins bekommen, doch es ist nicht im Geringsten so, wie ich es mir vorgestellt habe.

 

 

 

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