Kapitel 24

Opa

 

Nachdem wir unzählige Treppen, Gänge und Hallen passiert haben, bitte ich Gorim um eine Pause.

 

„Was denn?“, fragt er ungeduldig.

 

„Schotaker bekommen die Treppen nicht, er lahmt.“ Ich löse die Satteltaschen und nehme den Sattel ab. Dann gehe ich neben dem Hengst in die Hocke und hebe einen der Hufe an. Sorgfältig löse ich einige Steine, die sich in den Huf gedrückt haben. So verfahre ich auch noch mit den  anderen drei Hufen, danach streiche ich sorgfältig die Verspannungen aus Beinen, Rücken und Hals.

 

Während dieser Prozedur lässt Schotaker den Kopf mit genießerisch geschlossenen Augen hängen, nur ab und zu schnaubt oder grummelt er wohlig.

 

Schließlich – Gorim hat schon angefangen ungeduldig seinen Bart zu zwirbeln – richte ich mich auf und lege den Sattel samt Taschen wieder auf den kräftigen Rücken Schotakers.

 

 „Wir können“, verkünde ich und muss ein Quietschen unterdrücken, als Schotaker leicht an meinem Nacken knabbert. „Hey du Schwerenöter, lass das“, lache ich und schiebe seinen großen Kopf weg.

 

 „Deshalb mag ich diese Viecher nicht“, grummelt mein Begleiter, kann jedoch nicht verbergen, wie sehr ihn dieses kurze Zwischenspiel amüsiert.

 

Ich zwinkere ihm zu. „Ich könnte euch irgendwann ja mal Reitstunden geben, vielleicht merkt ihr ja dann, dass ihr Pferde eigentlich mögt.“ Entsetzt weicht der Zwerg einige Schritte zurück. Abwehrend hebt er die Hände: „Nein danke, ich habe keine Lust, mich auf dem knochigen Rücken von einem schwankendem Biest durchschütteln zu lassen.“

 

Herzhaft lachend werfe ich den Kopf in den Nacken.

 

„Was war daran jetzt so lustig?“, fragt Gorim leicht beleidigt. Immer noch leicht kichernd stecke ich mir eine Haarsträhne, die sich aus einem meiner Zöpfe gelöst hat, hinter das Ohr. „`tschuldigung, einfach alles.“ Nun kann auch Gorim ein leichtes Grinsen nicht unterdrücken.

 

„Wir sollten weiter“, meine ich dann und der Krieger nickt zustimmend.

 

Eine ganze Weile laufen wir in einträchtigem Schweigen nebeneinander her.

 

„Wie weit ist es noch?“, breche ich schließlich das Schweigen, das langsam beginnt, unangenehm zu werden.

 

„Wir kommen gleich zur Brücke von Khazad-dûm, von da an ist es nicht mehr weit.“
Wie angekündigt kommen wir bald bei der Brücke an. Als ich sie sehe, schlucke ich schwer. Unwillkürlich festige ich meinen Griff um die ledernen Zügel. Schotaker, der meine Nervosität spürt, schnaubt unruhig und tänzelt leicht auf der Stelle.

 

„Shhht“, sanft kraule ich seinen Hals. Augenblicklich beruhigt sich der Hengst, entspannt sich jedoch nicht.

 

„Kommt ihr endlich?“ Gorim ist bereits ein Stück vorausgegangen, nun bleibt er stehen und mustert mich teils neugierig, teils ungeduldig.

 

Ich schüttle leicht den Kopf, ja, es ist verdammt hoch – beziehungsweise es geht sehr weit runter, ja, ich kann am Boden scharfe Felsnadeln aufragen sehen und ja, ich habe mir vorgestellt wie es wäre, hinabzustürzen und von einer dieser Felsnadeln aufgespießt zu werden. Tut es sehr weh? Oder bin ich sofort tot und spüre überhaupt nichts? Wieder schüttle ich den Kopf, um diese merkwürdigen Gedanken zu vertreiben. Sonst habe ich doch keine Probleme mit tiefen Abgründen und ein paar spitzen Steinchen! Es muss wohl daran liegen, dass ich „leichte“ Probleme damit habe, in einem Berg zu sein.

 

Ich schließe kurz die Augen, dann gehe ich los. Schotaker folgt mir auf dem Fuße, auch wenn er sehr nervös ist, scheint sein Vertrauen in mich jedoch größer als seine Angst zu sein. Wieder einmal bin ich stolz auf dieses wunderbare Tier.

 

Wir lassen die Brücke rasch hinter uns, bei den Valar, wenn ich mir vorstelle, wie kleine Kinder über diese Brücke rennen, ausrutschen und hinunterfallen könnten. Sofort muss ich an Aurora denken, ob es ihr gut geht? Natürlich, versichert mir die stets optimistische Stimme in meinem Kopf (In einer anderen Welt auch als Engelchen bezeichnet), Lirulin passt auf sie auf!

 

Und Lirulin ist auch immer da, er hat ja auch sonst nichts zu tun, widerspricht die andere Stimme sarkastisch – Teufelchen. Mit einem leichten Anflug eines Lächelns beende ich diese ohnehin fruchtlose Diskussion mit mir selbst, Aurora geht’s gut, basta!

 

Ein leichter Windzug spielt mit meinen Haaren.

 

„Wir sind gleich draußen“, sagt Gorim unnötigerweise.

 

„Hmh“, mache ich zustimmend.

 

 

 

Wir treten aus dem Tor hinaus. Über uns funkeln wieder die Sterne. Dies wird wohl die zweite Nacht in Folge, in der ich keinen Schlaf finden werde.

 

„Lebt wohl, Sureto“ verabschiedet sich Gorim ein wenig niedergeschlagen.

 

Erschrocken reißt er die Augen auf, als ich mich zu ihm hinunterbeuge und ihn umarme. „Namárië mellon nin. Bis bald mein Freund.“ Noch ehe er reagieren kann richte ich mich wieder auf. Mit einigen schnellen Schritten bin ich bei Schotaker und schwinge mich auf seinen Rücken.

 

Als ich ihm die Fersen in die Flanken drücke, geht er mit der Vorderhand leicht in die Luft, dann prescht er in gestrecktem Galopp voran.

 

Einige Sekunden verfolgt mich Gorims rumpelndes Lachen, dann sind wir außer Hörweite.
Übermütig wirft Schotaker den Kopf in den Nacken. Ebenso wie ich ist er begeistert davon, endlich aus dem beengenden Höhlensystem heraus zu sein. Ich beuge mich leicht nach vorn, um mich leichter zu machen.

 

Nach einer halben Stunde wird er langsamer, bis er schließlich in Schritt verfällt. Sein schwerer Atem vermischt sich mit meinem und kristallisiert sich zu kleinen, weißen Wölkchen.

 

Irgendwann machen wir eine Pause um etwas zu essen, zu trinken und einem äußerst natürlichen Bedürfnis nach zu gehen. Danach geht es in etwas zügigerem Tempo weiter.

 

Ein dunkler Streifen wird am Horizont vor der wie ein roter Feuerball aussehenden, aufgehenden Sonne sichtbar: Lórien.

 

Schotaker spürt die leichte Veränderung meiner Haltung, als ich unser Ziel vor uns sehe und beschleunigt sein Tempo leicht.

 

Rasch nähert sich der Waldrand. Die Blätter sind trotz des beginnenden Winters saftig grün, ebenso wie das leichte Unterholz. Als wir die Waldgrenze übertreten, kann ich ein überraschtes Zischen nicht unterdrücken, obwohl ich darauf vorbereitet war. Urplötzlich wird die klirrende Kälte von den Temperaturen eines milden Tages am Frühlingsende abgelöst.

 

Doch ab dem gleichen Augenblick habe ich auch das Gefühl, beobachtet zu werden. Ich lasse es mir nicht anmerken, bleibe aber wachsam.

 

D

 

Freudestrahlend, mit roten Wangen springt Aurora aus dem Sitz des Karussells. Schliddernd bleibt sie vor Lirulin stehen und dieser kann nur durch beherztes Zugreifen verhindern, dass sie das Gleichgewicht verliert und fällt. Das Mädchen bemerkt nicht, dass sie beinahe Bekanntschaft mit dem Boden gemacht hätte.

 

Übermütig springt sie und versucht an Lirulin hochzuklettern. Lachend hebt er sie hoch und setzt sie auf seine Schulter.

 

 „Wo soll´s jetzt hingehen, Prinzessin?“, fragt er und tut so, als wäre sie zu schwer für ihn. Unter gespieltem Stöhnen stolpert er, macht ein Hohlkreuz, biegt den Oberkörper nach links und rechts. Kreischend und lachend hält sich Aurora an den langen, blonden Haaren fest, was gehörig ziept, doch Lirulin ignoriert das gekonnt. Schließlich hört er mit dem Theater, das von den Umstehenden amüsiert beobachtet wird, auf. Er ist leicht außer Atem.

 

 „Also Prinzessin, wohin soll dein treues Ross dich bringen?“ Wieder lacht sie und reckt sich ein wenig. Schließlich zeigt sie nach links und kräht „Hüha Pferdchen! Galopp!“ Mit einem Wiehern, das nur mit viel Fantasie als solches zu erkennen ist „galoppiert“ Lirulin in Richtung einiger Gaukler in bunten Kostümen, von denen einer mit Fackeln jongliert und ein anderer Feuer speit.

 

Hier ist die Menge am dichtesten, dennoch schafft Lirulin es, in die erste Reihe zu kommen, was vor allem daran liegt, dass die Elben, denen Kinder heilig sind, ihm bereitwillig Platz machen.

 

Begeistert klatscht und jubelt Aurora als einer der Männer auf Händen über die hölzerne Bühne läuft und dann nur noch auf einer Hand balancierend winkt.

 

Ein junger Mann mit gelb-blaue gestreiftem Hemd und brauner Hose beugt sich vor und zieht ein Stück Schokolade in Form einer Münze hinter ihrem Ohr hervor.

 

 „Für die Schönste im ganzen Land“, raunt er ihr zu und gibt ihr die Schokolade. Verlegen kichert Aurora und wird sogar etwas rot, schnappt sich aber begeistert die Leckerei.

 

„Wie heißt du denn?“, fragt der Mensch – alle Gaukler in Imladris sind Menschen.

 

 „Aurora“, antwortet Aurora mit vollem Mund. Obwohl es nur ein Stück Schokolade war, hat sie es geschafft, sich das halbe Gesicht einzuschmieren.

 

Leicht verzweifelt fragt sich Lirulin, wie er das wieder aus den Klamotten, die zweifelsohne auch etwas abbekommen haben oder abbekommen werden, herausbekommen soll. Der Gaukler nimmt ihm dieses Problem ab, indem er aus den Haaren einer in ihrer Nähe Frau ein Taschentuch hervorzaubert und ihr damit den Mund abwischt.

 

„Hilfst du mir auf der Bühne Aurora?“ Begeistert nickt Aurora und lässt sich von dem jungen Mann auf die Bühne heben. Grinsend sieht Lirulin zu, wie Aurora einen dressierten Hund durch einen Reifen springen lässt und der junge Gaukler ihr eine Münze aus der Tasche zieht, die vorher mit Sicherheit noch nicht dort gewesen war.

 

 „Seid ihr Lirulin?“, fragt eine tiefe Stimme.

 

 „Ja“ Er muss laut reden, um den Lärm zu übertönen. Ein großer Mann mit athletischem Körper steht neben ihm. „Wer seid ihr?“

 

Der Fremde sieht kurz zu dem blonden Wirbelwind auf der Bühne, dann antwortet er: „Tokei-ihto“

 

Der Name kommt Lirulin sehr bekannt vor, doch es dauert einen Augenblick, bis ihm wieder einfällt, woher. Er schnappt nach Luft. „Ihr seid Suretos Vater?“ Es ist eigentlich keine Frage und Tokei-ihto macht sich auch nicht die Mühe zu antworten.
„Mir wurde gesagt, ihr wärt ein sehr guter Freund von ihr.“

 

„Ja, sie ist meine Gwathel, ich meine…“

 

„Schwester im Geiste, ich bin des Sindariens durchaus mächtig“, unterbricht ihn der Dunkelhäutige. „Ist das Ihre Adoptivtochter?“ Er deutet mit dem Kinn auf Aurora, die auf den Schultern einer Gauklerin steht. Was genau sie dort tut, weiß Lirulin nicht, doch im Gegensatz dazu, dass er grade mit dem Vater seiner besten Freundin spricht, ist dies nahezu unbedeutend. Er winkt ihr zu und sie winkt zurück.

 

„Ja, sie ist ein wunderbares Kind, ihre Mutter wurde vor nicht allzu langer Zeit ermordet, Orks. Sie war dabei, Sureto hat sie gerettet.“ Bei dieser Erinnerung wird Lirulin übel – was wenn sie nicht schnell genug gewesen  wäre oder der Ork sich nicht so viel Zeit gelassen hätte? Mit einiger Mühe verdrängt er diese schmerzlichen Gedanken. Er sieht das Mädchen mittlerweile als Tochter an.

 

 „Wie alt ist sie?“

 

„Vor kurzem ist sie fünf geworden.“

 

Der Gaukler bringt Aurora wieder zurück und Lirulin nimmt sie wieder auf die Schulter.
„Schau mal Auri“, er zeigt auf Tokei-ihto, der das Mädchen mit einem für ihn ungewöhnlich weichen Gesichtsausdruck ansieht. „Das ist Tokei-ihto, der Ada (Papa) von Suri.“

 

Neugierig beugt sich Aurora zu dem Indianer hinüber. „Opa?“ Die Augen des Dakotas weiten sich leicht und er zieht die Luft hörbar ein, wohl das Äquivalent zu einem erschrockenen Augenaufreißen und nach Luft schnappen.

 

„Opa?“, echot er dann ungläubig.

 

Lachend krümmt sich Lirulin. „Opa“, pustet er und lacht beinahe Tränen.

 

Verwundert sieht Aurora die beiden Männer an. „Was denn?“, fragt sie unschuldig und versucht krampfhaft das Gleichgewicht zu halten, was nicht ganz funktioniert, da sie noch immer auf den Schultern des sich vor Lachen biegenden Lirulin sitzt.

 

Tokei-ihto hat mittlerweile seine Überraschung, als Opa bezeichnet zu werden, größtenteils überwunden. Vorsichtig greift er nach dem Kind und setzt es sich auf die Hüfte. Es wärmt ihm – auch wenn er es nie zugeben würde – das Herz, wie das kleine Kind, das ihn erst seit ein paar Sekunden kennt, ihn so vertrauensvoll ansieht.
„Soso, ich bin also dein Opa.“ Mit der freien Hand stupst er sanft gegen ihre mit Sommersprossen übersäte Nase. Kichernd hält sie seine Hand, die größer ist als ihr Kopf, fest, dann sieht sie ihn mit einem seltsam weisen, wissenden Blick an, der in den Augen eines so jungen Mädchens vollkommen fehl am Platz wirkt. „Du bist der Ada von Suri und Suri ist meine Nana(Mama), irgendwie.“

 

Sanft hebt er sie etwas höher. „Irgendwie?“

 

Er sieht, wie es Aurora schwer fällt, ihre Gedanken zu formulieren. „Naja, sie ist nicht wirklich meine Nana, meine Nana ist bei den Sternen, weißt du? Und mein Ada auch. Suri hat den bösen Mann weggemacht, der Nana tot gemacht hat und passt seit dem auf mich auf, also ist sie meine Nana.“ Sanft drückt er sie etwas fester an sich.

 

 „Meine Nana und mein Ada sind auch bei den Sternen. Sie haben sicher viel Spaß mit deinen Eltern.“

 

 „Haben sie!“, stimmt Aurora im Brustton der Überzeugung zu.

 

D

 

Mit langen Schritten eilt Tazlogg durch die Gänge von Barad-dûr. Als er vor einigen Jahren erfuhr, dass sein Herr nicht in Númenor sein Ende fand, konnte er es nicht glauben, nun sind die Vorbereitungen für einen Vernichtungsfeldzug gegen die Völker des Lichts in vollem Gange.

 

Es graust ihm davor, gleich vor seinem Herrn zu stehen. Die Aura der Dunkelheit, der Grausamkeit, der unglaublichen Macht.

 

Ehrfürchtig begrüßen ihn die übrigen, rangniedrigen Orks, denen er begegnet, doch er ignoriert sie - wie immer.

 

Tazlogg bleibt vor einer massigen, aus genietetem Stahl bestehenden Tür stehen und sagt etwas in der Sprache der Orks, ein für andere Völker unverständlicher und abstoßender Mischmasch aus Worten der Schwarzen Sprache und Brocken, die sie aus anderen Sprachen und Dialekten aufgeschnappt haben.

 

Kurz darauf lässt ihn die Leibwache Saurons ein. Sein Herr steht mit dem Rücken zu ihm und sieht über das Dunkle Land. Orks, kahler Fels, die Ebene von Gorgoroth und dort der Schicksalsberg, an dessen Hängen wie immer rotglühende Bäche aus flüssiger Lava hinabrinnen.

 

„Was willst du?“ Der Klang dieser harten Stimme, voller Grausamkeit, lässt Tazlogg erzittern. Er sinkt auf die Knie und senkt den Kopf. „Die Elben wissen, dass ihr lebt, Herr. Sie bereiten sich auf einen Krieg vor und senden Boten zu den anderen Völkern Mittelerdes.“

 

Eine Weile herrscht beklemmende Stille in dem düsteren Domizil des Herrschers der Finsternis. „Woher wissen sie das?“

 

 „Als ein paar dieser dreckigen Gondorer verschwunden sind, wurde sofort der Halbelb informiert, dann ist einer der Balrogs außer Kontrolle geraten, als sie einige Weiber für die Zucht aus dem Dorf in der Nähe von Bruchtal holen sollten.“

 

„War das alles?“

 

„Ja Herr.“ Tazlogg wagt es, leicht den Kopf zu heben, Sauron steht noch immer mit dem Rücken zu ihm.

 

Der Ring an seinem linken Zeigefinger scheint etwas zu flüstern, Tazlogg erkennt den Klang der Schwarzen Sprache, doch es ist zu leise, als dass er Worte verstehen kann. In einer beinahe zärtlich wirkenden Geste streicht der Dunkle Herrscher mit dem Daumen über den Ring. Die flammenfarbene Inschrift leuchtet kurz etwas heller.

 


Ash nazg durbatulûk, ash nazg gimbatul,

 

ash nazg thrakatulûk agh burzum-ishi krimpatul.

 

 

 

Ein Ring, sie zu knechten, sie alle zu finden,

 

ins Dunkel zu treiben und ewig zu binden.

 

 

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