Kapitel 25

Haldir

 

Sanft bremse ich Schotaker, der wenig begeistert ist, dass er nicht mehr über den weichen Waldboden galoppieren darf. Entschuldigend kraule ich den Mähnenkamm, dann richte ich meinen Blick nach oben zu den frühlingsgrünen Baumkronen. Ich kann zwar niemanden sehen, weiß jedoch, dass dort mehrere Elben sind.
Sie verfolgen mich, seit ich die Grenze Lóriens passiert habe. Nun bin ich mit meiner Geduld am Ende und nebenbei habe ich auch die Orientierung verloren.

 

„Zeigt euch, ich weiß, dass ihr da seid!“, rufe ich. Gleich darauf raschelt es in den mich umgebenden Bäumen und fünf Elben treten aus dem Schatten. Vier von ihnen richten ihre reich verzierten Bögen auf mich, der fünfte – offenbar der Anführer – baut sich lässig vor mir auf und sieht mich arrogant an.

 

„Was wollt ihr in Lórien?“ Seine Stimme passt zu seinem Äußeren - hart, kalt und emotionslos, dennoch höre ich den melodisch-sanften Ton heraus, der allen Elben zu eigen ist.

 

„Ich habe eine Botschaft für König Amdír von Lord Elrond von Imladris.“ Da ich noch immer auf Schotakers Rücken sitze, kann ich ihn wunderbar von oben herab mustern.
Wir liefern uns ein kurzes Blickduell, der andere beendet es. „Wie heißt Ihr?“

 

„Sureto Tokei-ihtosell zweite Heerführerin von Imladris, und Ihr?“

 

„Haldir o Lórien oberster Wächter Lóriens – und jetzt steigt ab.“

 

Es passt mir zwar überhaupt nicht, nach seiner Pfeife zu tanzen, doch es bringt mir nichts als Scherereien, es nicht zu tun. Betont langsam schwinge ich das rechte Bein über Schotakers Hals und lasse mich zu Boden gleiten.

 

Einer der Elben – er hat unglaubliche Ähnlichkeit mit Haldir – senkt den Bogen und lässt den weißgefiederten Pfeil zurück in den Köcher gleiten. Mit der freien Hand greift er nach Schotakers Zügeln. Mit einer blitzschnellen Bewegung schlage ich seinen Arm zur Seite und Schotakers starke Kiefer knallen mit einem hohlen Geräusch zusammen.

 

Die drei anderen  Krieger senken die Bögen, die sie bei meiner plötzlichen Bewegung auf mich gerichtet haben, leicht, bleiben jedoch wachsam.

 

„Ich denke, ich führe ihn selbst“, meine ich ruhig. Verärgert presst Haldir die Lippen zu einem schmalen Strich zusammen, doch da er weder seine, noch die Hand von einem seiner Männer opfern möchte, nickt er knapp.

 

„Folgt mir!“ Geschmeidig dreht er sich um und marschiert los – wobei ich feststellen muss, dass er mich entweder auf Umwegen nach Caras Galadhon führen will, oder ich – was wahrscheinlicher ist – in die vollkommen falsche Richtung geritten bin. Ärgerlich.

 

„Arroganter Bastard“, murmle ich fast unhörbar. Scheinbar für Elbenohren nicht leise  genug. Ein melodisches Lachen erklingt neben mir – der junge Elb, der fast nähere Bekanntschaft mit Schotakers Zähnen gemacht hätte.

 

„Eigentlich ist er ganz in Ordnung, er ist nur viel jünger als die meisten anderen Krieger, deshalb glaubt er, dass er, um Autorität zu zeigen, ein arroganter Bastard sein muss, wie Ihr so treffend formuliert habt. – Ich bin übrigens Rúmil.“ Mit einem jungenhaften Grinsen hält er mir eine Hand hin und ich schlage mit dem gleichen Gesichtsausdruck ein.

 

„Wenn diese rührende Bekanntschafts-Schließung nun beendet ist, wäre es überaus reizend von Euch, wenn Ihr nun die Güte hättet, mir zu folgen“, sagt Haldir mit beißendem Sarkasmus, ohne sich umzusehen

 

Rúmil verdreht die Augen und formt mit den Lippen: „Das ist eben Haldir.“ Ich grinse leicht und gebe ihm einen Klapps auf die Schulter. „Machen wir lieber, was er sagt, wir müssen ihn ja nicht mehr als nötig reizen.“

 

„Welch weise Worte…“

 

Als wir den Nimrodel passieren, merke ich erst, wie weit ich nach Norden abgekommen bin. Wir kommen zu einer besonders schönen Stelle, wo ein niedriger Wasserfall mit zahlreichen Kaskaden die Luft mit glitzerndem Sprühnebel erfüllt. Diese Szenerie ist auch das Motiv von einem der schönsten Gemälde Imladris`. Bei dem Anblick kommt mir ein Lied in den Sinn, dass Minu einmal El und Ro als Schlaflied vorgesungen hat:

 

Es lebte eine Elbenmaid so wie der Morgen hold.

 

Ihr Kleid, ihr Schuh war ein Geschmeid von Silberglanz und Gold.

 

Auf ihrer Stirne stand ein Stern, im Haare spielte Licht,

 

wie auf den Hügeln Lórien's fern die Sonne heller nicht.

 

Ihr Haar fiel reich und gliederweiss und schön war sie und frei,

 

und bog sich wie ein junges Reis im Wind so sanft dabei.

 

Am Wasserfall von Nimrodel, der klar und kühl versprüht

 

fiel sie mit ein wie Silber hell ins helle Wasserlied.

 

Heut aber kennt sie keiner mehr, noch ihren Aufenthalt.

 

Sie fand nicht Weg noch Wiederkehr aus Wildnis, Berg und Wald.

 

Das Elbenschiff im Hafen lag, am Berge sturmgeschützt,

 

und harrte ihrer Tag um Tag, die See ging weissbemützt.

 

Ein Sturm kam auf von Norden her zur Nacht mir Urgewalt,

 

und trieb das Schiff hinaus aufs Meer ins Dunkel ungewalt.

 

Der Strand, der Berg verschwamm im Dunst, vertrübt und ungenau.

 

Die Wogen türmten sich zu Brunst und rollten schwer und grau.

 

Noch schärfte Amroth seinen Blick, noch suchte er die Stell',

 

das Schiff verfluchend - nicht zurück trugs ihn zu Nimrodel.

 

Er selber herrschte einst im Wald, ein König von Geblüt,

 

als Lórien's Macht noch golden galt und elbisch sang das Lied.

 

Nun schoss er wie ein schlanker Pfeil ins Wasser tief hinab,

 

und tauchte mövengleich und heil hervor aus nassem Grab.

 

Der Wind zerwühlte ihm das Haar, weiss flog der Schaum um ihn,

 

dann sah man ihn wie einen Schwan, die Wogen reitend, zieh'n.

 

Doch drang kein Wort von Westen her in unser Elbenland,

 

und keiner hörte jemals mehr von Amroth, der entschwand.

 

„Ihr kennt das Lied von Nimrodel?!“  Ein Hauch von Überraschung schwingt in Haldirs Stimme mit. Ich spüre meine Ohrspitzen heiß werden, habe ich etwa laut gesungen?

 

Rúmil kichert leise, wird jedoch von einem scharfen Blick seitens Haldir zum Verstummen gebracht.

 

 „Badet eure Füße in seinem Wasser, es heilt von Müdigkeit und Erschöpfung.“ Haldirs Stimme ist um einen Hauch milder als zuvor, doch vielleicht bilde ich es mir auch nur ein.

 

Hüpfend streife ich mir Schuhe und Strümpfe ab, was eine ungemeine Erleichterung ist, und kremple die Hose bis zu den Knien hoch.

 

Vorsichtig gehe ich in den Bach. Die Strömung ist überraschend stark. Die Wellen mit den kleinen Schaumkronen umspielen meine Beine, das Wasser ist kühl, aber keineswegs unangenehm.

 

Die verspannten Muskeln in meinen Schultern und im Rücken lockern sich leicht und ich spüre neue Energie in meine Glieder strömen.

 

Ich schließe die Augen und lege den Kopf in den Nacken. Die Erschöpfung, die Anspannung und die Müdigkeit werden weggespült, und ich fühle mich so frisch und ausgeschlafen wie schon lange nicht mehr.

 

Erst nach einer geraumen Weile öffne ich wieder die Augen. Erschrocken zucke ich zusammen, als ich mich Nase an Nase mit Schotaker wiederfinde.

 

 „Junge, hast du mich erschreckt.“ In meiner Überraschung verfalle ich wieder in meine Muttersprache.

 

 „Na komm Großer, genug geplanscht“, sage ich, nun wieder auf Sindarien.

 

Ich schüttle das Wasser so gut es geht von den Füßen ab und ziehe Schuhe und Strümpfe wieder an – wieder mit dem gleichen Gehüpfe. Dann geht es weiter.

 

Einige Stunden später gelangen wir an einen sanften Hang. Vor uns erhebt sich eine Gruppe gigantischer Bäume über den Rest des Waldes. Die silbrigen Stämme und goldenen Blätter schimmern im Licht der Sonne.

 

„Das also ist Caras Galadhon“, stelle ich fest und kann die Bewunderung nicht aus meiner Stimme bannen.

 

 „Ja“, bestätigt Haldir leise. „Weiter!“

 

Vorsichtig gehen wir den Hang hinab, der stellenweise recht steil und durch modriges Laub rutschig ist. Dann betreten wir Caras Galadhon. Die Wurzeln der Mallorn-Bäume sind größer als ich und die riesigen, gewiss uralten Bäume erfüllen mich mit Ehrfurcht.

 

Wunderschöne Treppen winden sich um die silbrigen Stämme. Sie führen zu den hellen, offenen Talin (Mehrzahl von Talan), auf denen die Elben Lothlóriens wohnen.
Haldir führt uns in das Zentrum Caras Galadhons, zu einem besonders mächtigen Mallorn. Ganz oben, fast unsichtbar, befindet sich der größte Talan.

 

 „Warte hier auf mich, mellon nin“, raune ich Schotaker zu, ehe ich ihn unter der Aufsicht eines der Wächter zurücklasse und Haldir hinauffolge.

 

Unzählige Stufen später sind wir endlich oben. Der Talan hat eine Art inneren Glanz und ist mit unglaublichem Geschick in die Krone des Baumes gebaut. Das Dach ist einem Haus ähnlich aufgebaut und wird von eleganten Säulen gehalten, deren Kapitelle dem Astwerk eines Baumes nachempfunden und so ineinander verschlungen sind, dass sie kunstvolle Spitzbögen ergeben.

 

Vorsichtig lasse ich eine Hand über das weiche Holz gleiten. Es fühlt sich warm an.
Langsam, damit mir nichts entgeht, gehe ich weiter. Haldir bleibt am Eingang stehen, bedeutet mir aber, weiter zu gehen. Als ich auf ein kreisförmiges Plateau mit einem großen Loch in der Mitte komme, sehe ich vorsichtig hinunter.

 

Ein laut der Bewunderung entkommt mir, ehe ich es verhindern kann.

 

„Ja, diese Aussicht ist wahrlich atemberaubend“, erklingt eine melodische Stimme hinter mir. Rasch drehe ich mich um. Vor mir steht ein großer silberblonder Elb, der mich um mehr als einen halben Kopf überragt. Auch wenn er außer einem schlichten Stirnband keinen Schmuck trägt, erkenne ich ihn sofort als Amdír, den König Lothlóriens, die bodenlange, silbergraue Robe, die Haltung, die Stimme – kurz die gesamte Ausstrahlung des Mannes zeugt von seiner königlichen Herkunft. Etwas hinter ihm stehen zwei weitere Elben.

 

 „Doch wenn ich mich nicht irre, ist die Aussicht nicht der Grund für euer kommen.“

 

D

 

Noch immer mit Aurora, die nicht einmal daran zu denken scheint, ihn loszulassen, setzt sich Tokei-ihto vorsichtig auf die Couch in Lirulins Wohnzimmer.

 

 „Kann ich dir etwas anbieten? Wein? Wasser? Tee?“, fragt Lirulin eifrig.

 

„Wasser bitte.“ Er verzieht kurz das Gesicht als Aurora ihm bei dem Versuch sich umzudrehen das Knie in den Baum rammt. Vorsichtig nimmt er sie bei der Taille und dreht sie um, um weitere Schmerzen zu verhindern.

 

 „Hier“, Lirulin beugt sich vor und reicht dem Indianer, der vorsichtig einen Arm von Aurora löst und das zappelnde Kind mit dem anderen Arm um die Taille festhält, das Wasser.

 

Geschmeidig lässt sich Lirulin ihm gegenüber auf dem Sessel nieder, ein halbvolles Glas Wein in der Hand. Er schwenkt den Wein leicht und betrachtet den sich bildenden Strudel, ehe er einen kleinen Schluck trinkt.

 

 „Ich hätte, ehrlich gesagt, nicht damit gerechnet dich kennenzulernen. Sureto hat viel über dich erzählt.“ Lirulin hatte Tokei-ihto recht bald das du angeboten, was dieser dankend angenommen hatte.

 

 „Ich will die Schokolade“, fordert Aurora an Lirulin gewandt.

 

„Wie heißt das?“

 

Ungeduldig zappelt Aurora herum, „Bitte?“ Lirulin sieht sie mit einer hochgezogenen Braue über den Rand seines Glases hinweg an.

 

 „Kann ich bitte die Schokolade haben?“

 

„Aber natürlich Prinzessin“, lächelt Lirulin, stellt das Glas ab und geht zu seinem Umhang. Er muss etwas suchen, bis er die richtige Tasche findet und die ersehnte Leckerei hervorzaubert.

 

Sofort versucht Aurora Tokei-ihtos Arm abzuschütteln. Leise Lächelnd setzt er sie auf den Boden.

 

Sich beinahe überschlagend vor Eile stürmt Aurora zu Lirulin. Lachend gibt der ihr die Schokolade.

 

 „Danke Liru.“ Ein betörender Augenaufschlag, dann rennt sie mit ihrer Beute in ihr „Zimmer“.

 

Langsam geht Lirulin zurück zu seinem Sessel, setzt sich und nimmt sein Weinglas wieder in die Hand.

 

 „Ein süßes Kind“, meint Tokei-ihto schmunzelnd.

 

„Ja.“ Lirulin nippt noch einmal an seinem Glas.

 

„Wie wurde sie eigentlich Suretos Adoptivtochter?“ Ehrliches Interesse liegt in seinen Augen.

 

Lirulin seufzt und nimmt noch einen Schluck. „Bei Suretos erster Patrouille stießen sie auf ein Dorf, dass von einem Balrog vernichtet wurde. Die Männer wurden ermordet, die Frauen und Mädchen wurden entführt. Sie und Mallanglîn –eine unserer Kriegerinnen – folgten der Fährte, die die Orks hinterlassen hatten. Nun, kurz bevor sie sie erreichten, baten sie um Verstärkung. Es kam zu einem Kampf, in dem Auroras Mutter getötet wurde und Sureto konnte gerade noch verhindern, dass das Biest auch noch Aurora killt. Tja, und dann… Aurora hatte beide Elternteile mit einem Schlag verloren und war somit Waise. Sureto hat sie als ihre Tochter angenommen und kümmert sich um sie. Dabei wusste sie, als sie Aurora Adoptiert hat, nicht einmal ihren Namen“

 

Leise seufzt Tokei-ihto, seine Augen sind in weite Ferne gerichtet und haben einen melancholischen Glanz.

 

 „Woran denkst du?“, fragt Lirulin leise. Er nimmt den Wein kurz in die rechte Hand und streicht sich mit der anderen eine vorwitzige Strähne hinter das Ohr, dann nimmt er das Glas wieder in die linke Hand.

 

 „Hm?“ Tokei-ihto scheint aus einer anderen Sphäre zurückzukehren. Er blinzelt kurz. „Ich dachte an meine Eltern.“

 

Lirulin lehnt sich leicht vor und stützt sich mit den Unterarmen auf den Oberschenkeln ab. „Magst du reden?“, fragt er in der Hoffnung, näher an den verschlossenen Dakota heranzukommen und etwas mehr über ihn zu erfahren.

 

Tokei-ihto hebt den Kopf und schüttelt ihn leicht. Lirulin lehnt sich wieder zurück und lässt das Thema fallen. „Wirst du noch lange hierbleiben?“

 

 „Ich weiß noch nicht, aber ich würde es gern tun. Es ist schön hier, aber…anders“ Tokei-ihto fand Lirulin auf Anhieb nett – nicht nur weil er der Gwador seines einzigen Kindes ist - und öffnete sich ihm. Es tut ihm gut, endlich wieder offen mit jemanden reden zu können. Seine Tochter irgendwo in Mittelerde, Tschapa, Tschetansapa und Sitopanaki sind mit Adam Adamson in der Stadt. Cate Smith und Uinonah sind ebenfalls weg – Frauensachen, von denen er nichts versteht. Tobias und Donner vom Berge sind auf der Jagd. Da ihm daher nichts mehr in Kanada hielt, hatte er die Führung des Stammes Untschida, Thomas und Theo überlassen und war losgezogen, um seine Tochter zu suchen.

 

Nachdenklich trinkt er einen Schluck Wasser, ehe er das Glas wieder auf dem Tisch abstellt. „Könnte ich vielleicht doch noch etwas Wein bekommen?“

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