Kapitel 23

Vater

 

Nach und nach weichen Flechten und trockene Grashalme verkrüppelten Kiefern und kleinen Fichten. Der Mann und sein vierbeiniger Begleiter genießen es, endlich wieder das Zwitschern von Vögeln und das Rascheln kleiner Tiere im Unterholz zu hören. Die Luft ist auch nicht mehr so eisig kalt.

 

Trotz allem ist dem Mann nicht wohl. Immer wieder sieht er sich um, sucht demjenigen, dessen Blick er im Nacken spürt.

 

Zügig folgen die Beiden dem mit einer dünnen Schneeschicht bedeckten Pfad, bis dieser plötzlich an einem steilen Hang endet.

 

Mit einer geschmeidigen Bewegung lässt sich der Mann auf die Knie sinken, um über den Rand zu sehen. Ein Rascheln. Mit einer blitzschnellen Bewegung richtet sich der Mann auf und legt in der gleichen Bewegung einen Pfeil in die Sehne.
Er sieht nur noch einen silbernen Schimmer, der im Geäst eines Baumes verschwindet, doch das genügt ihm. Ruhig richtet er den Pfeil auf seinen unsichtbaren Verfolger.

 

„Zeigt euch!“, befiehlt der Mann hart. In seiner Stimme schwingt mehr als nur ein Hauch von Bedrohung mit.

 

Es raschelt und gleich darauf lässt sich der Mann, der sich in der Krone einer großen Kiefer versteckt hatte, geschickt zu Boden fallen.

 

Sorgfältig achtet er nun darauf, dass der Mann seine leeren Handflächen sehen kann, während er sich erhebt. Auch er ist bewaffnet. Sehen kann der Mann nur ein Schwert und einen Bogen samt Pfeilen, doch er geht davon aus, dass er noch viele weitere bei sich trägt.

 

„Wer seid ihr?“, verlangt der dunkelhäutige Mann zu wissen, der den blonden Hünen noch um ein gutes Stück überragt.

 

„Ich bin Heledir, Krieger von Imladris“, antwortet der Blonde mit starkem Akzent auf Westron, der Sprache, die auch der  Dunkelhäutige gebraucht hatte. Das >ch< aus >ich< klingt wie das >ch< von >ach<. „Darf ich nun euren Namen erfahren?“ Langsam senkt der Mann den Bogen.

 

„Tokei-ihto“ Er zögert kurz, ehe er fragt: „Könnt ihr mich nach Imladris führen?“

 

„Gewiss“, antwortet Heledir, der es nun endlich geschafft hat, seine Überraschung darüber, dass dieser Mann ihn entdeckt hatte, zu überwinden.

 

Flink eilt Heledir voraus, Tokei-ihto folgt ihm in seinem ganz eigenen, weit ausgreifenden, lautlosen Gang.

 

Schon bald kommen sie zu einer Straße, die sich in ausgedehnten Serpentinen den Hang hinabwindet. Nun kann Tokei-ihto endlich die Stadt sehen, die sich an die Hänge des Tales schmiegt, wobei die Bezeichnung ‚Tal‘ für die tiefe Schlucht   alles andere als zutreffend ist.

 

Fasziniert bleibt er stehen und betrachtet den Zauber der weißen Bögen, Gänge und Balkone inmitten der herbstlich gefärbten Bäume. Über alledem liegt der Sprühnebel der Wasserfälle, in dem sich die Sonnenstrahlen der tiefstehenden Sonne brechen.

 

Heledir lässt Tokei-ihto einige Zeit, um den Anblick zu bewundern, ehe er ihn leise auffordert: „Kommt, wir müssen weiter.“ Stumm nickt der Indianer und befiehlt Ohitika, der sich hingelegt hat, mit einem Zungenschnalzen weiter zu laufen.

 

Leise grollend rappelt sich der große Hund auf. Als Tokei-ihto ihm einen scharfen Blick zuwirft, verstummt das Grollen abrupt und der Hund wedelt unterwürfig mit der zottige Rute.

 

Die beiden kommen zügig voran, obwohl Tokei-ihto immer wieder kurz stehen bleibt, um ins Tal hinabzublicken. Auf dem Weg zum Haupthaus wird der Indianer von beinahe allen schief angesehen, doch das tangiert ihn nicht weiter. Mit emotionsloser Miene begegnet er den abschätzigen Blicken.

 

Vor den Türen des großen Haupthauses bittet Heledir Tokei-ihto zu warten und geht hinein, um Elrond zu suchen.

 

Er findet ihn in der Bibliothek, wo er mit Erestor über die Glaubwürdigkeit eines Reiseberichtes diskutiert, der von einem Menschen verfasst wurde, welcher wohl eine zu große Schwäche für Alkohol hatte.

 

Mit einem dezenten Räuspern macht Heledir seinen Fürsten auf sich aufmerksam. Der hatte ihn zwar bemerkt, war jedoch davon ausgegangen, dass der Krieger sich nur ein Buch holen wollte und ihm daher keine weitere Beachtung geschenkt. Nun unterbricht er Erestor, der grade in Fahrt kommt, und wendet sich Heledir zu.

 

Als dieser sich der Aufmerksamkeit seines Fürsten sicher ist, berichtet er von dem Besucher.

 

„Tokei-ihto, sagtet ihr? So hieß doch auch der Vater von Sureto“, meint Elrond, als der Krieger geendet hat.

 

„Aye, Ich glaube er ist es“, stimmt Heledir zu und muss sich dann beeilen, um mit Elrond Schritt zu halten, der so schnell, wie es ohne zu rennen geht, die Gänge entlang eilt. Als sie in die Nähe des Tores kommen, wird der Lord langsamer und verfällt in das würdevolle Schreiten, das für ihn so typisch ist.

 

Elegant wie eh und je tritt er aus dem Tor und bleibt zwei Yards von Tokei-ihto entfernt stehen. Der Lord ist überrascht, als er feststellt, dass er zu dem Indianer aufblicken muss und das, obwohl Elrond – körperlich wie geistig – als einer der größten Elben Mittelerdes gilt.

 

Sich seine Überraschung nicht anmerken lassend legt er die rechte Hand flach auf die Brust und neigt den Kopf leicht zur Begrüßung. Wieder überrascht ihn sein Gegenüber, indem er ihn einfach nur stumm ansieht, ohne den Gruß zu erwidern. Der Hund an seiner Seite wittert neugierig in Richtung des Lords. Ein leichtes Zucken der Hand seitens des Indianers hält ihn zurück, als er aufstehen und den Lord beschnuppern will.

 

Nach einem kurzen Blick auf den Hund fasst Elrond wieder Tokei-ihto ins Auge.

 

 „Willkommen in Imladris“ sagt er mit leiser, volltönender Stimme und macht eine leichte Geste mit der Hand, die das gesamte Tal umfasst. Bis auf ein leichtes Blinzeln keine Reaktion. Der Mann macht Elrond nervös, etwas, dass schon lange keinem mehr gelungen war. Zusätzlich stört ihn die Unhöflichkeit des Besuchers von Sekunde zu Sekunde mehr.

 

 „Folgt mir“, bittet er leise und geht zurück ins Gebäude. Er verlässt sich darauf, dass der Indianer ihm folgt – zu Recht. Wieder ist Elrond überrascht, noch nie ist er einem Menschen begegnet, der sich derart leise bewegen konnte. Nur dank der kleinen Steinchen, die sich in die Sohle des Häuptlings gebohrt haben, hört er ihn überhaupt.
Ein leises Lächeln umspielt kurz seine Lippen, immerhin weiß er nun, woher Sureto diesen lautlosen Gang hat.

 

Elrond führt den Indianer auf direktem Weg zu seinem Arbeitszimmer, unterwegs grüßt er freundlich jeden, der ihm entgegenkommt, findet immer ein paar aufmunternde Worte oder eine Lösung. Die Elben jedoch haben es diesmal eilig fortzukommen, aus Furcht vor dem muskelbepackten Hünen mit dem harten, verschlossenen Gesicht und den kalten Augen.

 

Elrond öffnet die dezent, jedoch stilvoll verzierte Tür zu seinem Arbeitszimmer und lässt Tokei-ihto den Vortritt. Geräuschlos geht dieser ohne ein Wort des Dankes an ihm vorbei und bleibt dann reglos in der Mitte des Zimmers stehen.

 

Bevor Elrond ebenfalls in das recht spartanisch eingerichtete Zimmer kommt, hält er einen vorbeieilenden Schreiber auf und bittet ihn, Erestor zu holen, der sich als einziger in Imladris zumindest ein wenig mit der Kultur dieses fremden Völkchens auskennt. Außerdem fühlt sich Elrond in Erestors nähe beinahe noch sicherer, als in Glorfindels.

 

Höflich bietet Elrond seinem Gast einen der Sessel an und nimmt ihm gegenüber Platz, sorgfältig darauf achtend, dass der Tisch sich zwischen ihm und Tokei-ihto befindet.
Er bietet dem Indianer Tee an, den dieser jedoch mit einem leichten Kopfschütteln – der ersten Reaktion auf den Fürst, seit er da ist – ablehnt.

 

Ohne den Kopf zu bewegen mustert der Indianer den Raum, in den man ihn geführt hat. An der Wand ist ein Schwert aufgehängt, was seine Vermutung, dass Elrond ein Krieger ist, bestätigt. Vor dem großen, leicht geöffneten Fenster weht im sachten Wind ein dunkelblauer Vorhang aus Wollbrokat mit silberfarbenem Rankenmuster. Ein wenig kitschig für Tokei-ihtos Geschmack, aber durchaus stilvoll. In einem Regal stapeln sich Schriftrollen, Bücher und Kisten mit Briefen. Auf dem Boden liegt ein dicker, beiger Teppich, der perfekt mit der dunklen Wandvertäfelung aus Walnussholz harmoniert.

 

Der Krieger wird in seiner Beobachtung unterbrochen, als die Tür sich öffnet und ein zierlicher Schwarzhaariger in ebenso schwarzer Robe hereinkommt, was seine ohnehin schon helle Haut beinahe weiß wirken lässt.

 

Doch Tokei-ihto lässt sich von der geringen Größe des Mannes nicht täuschen, er erkennt einen Krieger, wenn er ihn sieht.

 

 „Erestor, schön dass du so schnell kommen konntest“, begrüßt ihn Elrond erleichtert, nicht mehr allein mit dem Dakota Häuptling zu sein.

 

„Ich kam so schnell ich konnte“, erwidert Erestor etwas steif und lässt sich unaufgefordert auf dem dritten Sessel nieder.

 

 „Häuptling Tokei-ihto, dies ist mein erster Berater Erestor o Imladris.“ Kaum merklich nickt Tokei-ihto dem Schwarzhaarigen zu.

 

„Tokei-ihto, Sohn Mattotaupas, Friedens- und Kriegshäuptling der Söhne der Großen Bärin.“ Im Gegensatz zu dem, was er bisher sagte, ist dies ein regelrechter Wortschwall. „Ich bin auf der Suche nach meiner Tochter, Sureto.“ Elrond wundert sich gar nicht mehr darüber, wie schnell der Mann auf den Punkt kommt, ohne das sonstige höfliche Geschwätz.

 

 „Sie war hier.“ Die Augen des Indianers blitzen auf.

 

 „War?“
Erestor lehnt sich vor, wobei er sich mit den Unterarmen auf den Oberschenkeln abstützt.
„Aufgrund besonderer Ereignisse sah sich eure Tochter gezwungen, Imladris zu verlassen.“ Die meisten würden damit, zufrieden geben, angesichts der kalten Stimme und des stechenden Blicks, und es nicht wagen, weiter nachzuhaken. Nicht so jedoch  Tokei-ihto. Fragend hebt er eine Braue. „Besondere Umstände?“

 

Erestor gibt nach einigen Sekunden seinen stechenden Blick auf, als sich Tokei-ihto davon gänzlich unbeeindruckt zeigt. „Ihr werdet damit wahrscheinlich nichts anfangen können, doch Mordor erstarkt und ein Balrog wurde in der Nähe gesichtet, oder zumindest das, was er hinterlassen hat, nicht der Balrog selbst.“

 

Tokei-ihto weiß durchaus, was dies zu bedeuten hat. Bei der Erwähnung Mordors und des Balrogs huscht ein Ausdruck tiefster Besorgnis über sein braungebranntes Gesicht. Sorge um sein einziges Kind. Doch ehe Elrond blinzeln kann, ist dieser Ausdruck verschwunden und hat wieder der stoischen Ruhe platz gemacht.

 

 „Und was hat Sureto damit zu tun?“ Elrond verwundert die tiefe Ruhe, des Dakotas, angesichts der Gefahr, in der seine Tochter schwebt. Wenn er hören würde, dass einer seiner Söhne in einer solchen Situation wäre, würde er vor Sorge nicht mehr ruhig sitzen können, während dieser Mann hier alle Zeit der Welt zu haben scheint. Wäre nicht dieser kurze Anflug von Sorge in seinem Gesicht gewesen, hätte man glauben können, seine Tochter interessiere ihn überhaupt nicht.

 

Noch ehe die Frage in sein Bewusstsein sickert, antwortet Erestor schon für ihn: „Sie überbringt die Nachricht an die Königreiche im Süden, sie wollte diese Aufgabe übernehmen, obwohl wir versucht haben, es ihr auszureden.“

 

 „Sie setzt immer ihren Kopf durch“, murmelt Tokei-ihto leise. Anscheinend bemerkt er erst als Elrond nickt, dass er seinen Gedanken laut ausgesprochen hat.

 

 „Wann wird sie zurückkommen?“, fragt er, um seinen Ausrutscher zu überspielen.

 

 „Das wissen wir nicht“, antwortet diesmal Elrond und erklärt, als Tokei-ihto fragend eine Braue hebt: „Der Winter bricht bald herein. Dann ist die Überquerung des Nebelgebirges lebensgefährlich und nahezu alle Wege nach Imladris sind unpassierbar. Zudem kennt Sureto Mittelerde nur von Karten und es könnte sein, dass sie dadurch länger braucht. Außerdem werden die bald einsetzenden Herbststürme sie aufhalten… Es gibt noch zahlreiche andere Dinge, die ihre Reise verzögern können, die ich jedoch nicht alle aufzählen möchte.“

 

Zu Elronds Erleichterung nickt der Dakota nachdenklich. Sofort errät Erestor seine Gedanken und nach einem kurzen Blickwechsel mit seinem Fürsten fragt er: „Möchtet ihr hier in Imladris bleiben? Wir werden mit Sicherheit ein gutes Quartier für euch finden, vielleicht auch nahe dem von Sureto.“

 

Ein Ausdruck, den Elrond nicht so recht deuten kann huscht über Tokei-ihtos Gesicht. Freude? Erleichterung? Neugierde?

 

                             D 

 

Lirulin wacht davon auf, dass sich Aurora auf seinen Bauch gesetzt hat und ihm in regelmäßigen Abständen in die Seite stupst. Leise murrend blinzelt er. „Was ist denn?“

 

 „Mir is langweilig!“

 

Von den nächtlichen Tränen ist nichts mehr zu sehen, stattdessen sieht er sich einem putzmunteren, tatendurstigen Kind gegenüber, das nun bespaßt werden möchte. Verzweifelt zermartert sich der Elb das Hirn, was er denn mit ihr machen könnte. Er hat heute freibekommen, wie alle wegen… das ist die Lösung!

 

„Was hältst  du davon, wenn wir auf das Fest zu Ehren Yavannas*15 gehen?“, schlägt er hoffnungsvoll vor. Nachdenklich legt sie den Kopf schief. „Macht das denn Spaß?“

 

 „Ja, ganz bestimmt“, bekräftigend nickt er.

 

 „Dann machen wir das.“ Entschieden nickt sie, klettert umständlich vom Bett und stiefelt in ihr „Zimmer“, wo sie sich etwas anzieht. Als sie wieder zum Vorschein kommt, tut der Anblick Lirulin in den Augen weh: grüne Hose, orange-rot geringelte Socken und ein intensiv pinker Pullover, die Mütze ist hellblau.

 

 „Willst du so rausgehen?“, fragt Lirulin vorsichtig.

 

 „Ja, das ist so schön bunt, wie der Herbst“ bestätigt Aurora und hüpft etwas, um an den braunen Mantel zu kommen, der an einem Haken neben der Tür hängt. Schließlich erwischt sie einen Zipfel und zieht.

 

„Ehm… also…“, beginnt Lirulin vorsichtig, der nicht weiß, wie er ihr beibringen soll, dass sie einfach nur schrecklich aussieht und Pink und Hellblau, nur wenig mit dem Herbst zu tun haben. Aufmerksam sieht sie ihn an, den Mantel schon in der Hand.

 

Schließlich gibt sich der Elb einen Ruck und sagt: „Die Farbe passen überhaupt nicht zusammen, es sieht, um ehrlich zu sein, schrecklich aus.“ Bestürzt sieht sie ihn an. Sofort hat Lirulin ein schlechtes Gewissen. Er steht auf und geht in ihr Zimmer, als er wieder herauskommt, hat er eine schwarze Mütze und eine Hose in dem gleichen Braunton wie der Mantel in der Hand.

 

Rasch zieht sich die Kleine um, dann gehen sie hinaus.

 

Die erste Station ist das Karussell, das von einem Mann, angetrieben wird, der in der Mitte steht und ein großes Rad dreht.

 

Er gibt dem Mann einen Tharni*16, hebt Aurora auf einen der Sitze und schließt den Bügel, damit sie nicht runterfällt. Dann entfernt er sich schnell. Kaum ist er außer Reichweite, geht es auch schon los.

 

Freudig quietscht Aurora auf, als sich das Karussell immer schneller und schneller zu drehen beginnt.

 

Mit einem leichten Lächeln auf den Lippen beobachtet Lirulin das Kind. Er spürt, dass jemand neben ihn tritt.

 

„Einmal noch jung sein“, seufzt Glorfindel sehnsüchtig. Zustimmend nickt Lirulin.

 

 

Kommentare: 0