Kapitel 02

Rettung

 Als ich  aus meinem tiefen, traumlosen Schlaf erwache bemerke ich, dass es nicht mehr ganz so kalt ist, wie in den letzten Tagen und Wochen  Überhaupt wirkt alles viel freundlicher.

 Erfreut richte ich mich auf. Aus der kleinen Tasche, in der ich auch das Brot unterbringe, hole ich ein speziell eingefettetes Stück Leder hervor, das mir als Topf dient. Schnell fülle ich das Leder mit Schnee und hänge es über das kleine Feuer, das ich zuvor noch ein wenig angefacht habe. Danach wate ich in den tiefen Schnee und wasche mich notdürftig. Das ist jeden Morgen eine Tortur! Bibbernd ziehe ich mein Hirschleder-Hemd über, wickle mich wieder fest in die Decke und rücke so nah es geht an das wärmende Feuer.

Schon nach kurzer Zeit ist der Schnee geschmolzen und ich fülle ihn in meine Feldflache, die ich immer direkt auf der Haut trage, um ihn daran zu hindern, zu gefrieren. Das funktioniert zwar nicht immer, aber zumindest meistens.

Als ich mich wieder halbwegs aufgewärmt habe, packe ich meine wenigen Habseligkeiten zusammen und verlasse den Schutz des Felsvorsprungs.

 

Vorsichtig blicke ich mich um, um sicher zu gehen, dass ich nicht angegriffen werde. Dabei höre ich etwas. Ganz leise, aber deutlich. Ein fernes Rauschen, das vielleicht von einem Wasserfall stammen könnte. Wenn ich dem Flusslauf folge stehen meine Chancen, irgendein Dorf zu erreichen, an dem mir jemand helfen kann, deutlich höher, als wenn ich weiterhin ziellos durch die Wildnis laufe. 

Voller Euphorie laufe ich in raschem Tempo los, direkt auf die vor mir liegende Bergspitze zu. Es war ziemlich schwierig, hinauf zu gelangen, weil sehr viel loses Geröll herumlag und der Gipfel deutlich höher und steiler war, als er aussah. Oben angekommen, muss ich mich auf den Knien abstützen, um wieder etwas zu Atem zu kommen.

Sobald mein Herz nicht mehr so rast, richte ich mich auf und lausche… und lausche.

Ich höre nichts, gar nichts. Entmutigt lasse ich mich auf den Hosenboden fallen. Das gibt’s doch nicht, da kraxle ich diesen Sch… Berg hoch, für nichts und wieder nichts! Ich vergrabe meinen Kopf in den Händen und kann ein paar Tränen nicht unterdrücken. Normalerweise bin ich nicht so nahe am Wasser gebaut, doch die Umstände setzten mir doch arg zu.

 Ich sitze eine ganze Weile so da, bis ich schließlich den Kopf hebe und mir entschieden die Tränen von den Wangen wische. Ich bin eine Kriegerin vom Stamm der Dakota! Ich weine nicht wegen solchen Nichtigkeiten! Und ich lasse mich verdammt noch mal nicht unterkriegen. Von nichts und Niemanden!

Mir auf diese Weise selbst Mut machend, stehe ich auf und will los laufen, als ich beinahe wieder auf dem Boden gelandet wäre. Mit den Armen rudernd fange ich mich und sehe verdutzt hinab auf die Solperfalle. Es ist eine Tasche. Wie konnte es passieren, dass ich eine Tasche, die mitten in der Wildnis herumliegt, nicht bemerke? Sonst entgeht mir eigentlich fast nichts. Stirnrunzeln gehe ich in die Hocke, um die Tasche näher in Augenschein zu nehmen. Sie besteht aus einem sicher wertvollen, festen Leder, das sich sehr angenehm anfühlte. Auf der Rückseite kann ich ganz leicht eine einzelne Blume erkennen. Verwundert streiche ich über die Prägung. Was hatte sie wohl zu bedeuten?

Ich beschließe eine Weile zu warten. Es war schließlich sehr wahrscheinlich, dass der Besitzer bald zurückkam. Ich meine, wer würde so etwas Wertvolles einfach zurücklasse

Die Wartezeit vertreibe ich mir, indem ich meine Gedanken ein wenig schweifen lasse.

 

D

 

„Papaaaa? Erzählst du mir eine Geschichte?“, frage ich in dem typischen quengelnden Ton von Kleinkindern.

„Was willst du denn hören, meine Kleine“, fragt mein Vater und setzt sich auf eins der Felle, mit denen der Boden des Tipis ausgelegt ist.

„Die in der du einen Wolf getötet hast, als er den Pferdchen wehtun wollte“, antworte ich. Tokei-ihto lächelte amüsiert und begann…

„Es war damals, als ich noch Harka, Steinhart, Nachtauge hieß. Es geschah, nachdem wir aufbrachen um den Büffeln zu folgen. Wir lagerten in der Prärie nahe eines kleinen Bachs. Weit nach Mitternacht wurde ich von einem hellen durchdringenden Warnruf geweckt. Ich sprang auf und griff mir meinen Bogen. Das Messer hatte ich nachts nicht abgelegt. Ich hörte die Hunde draußen jaulen. Es klang zugleich zornig und ängstlich. Die Pferde schnaubten und stampften nervös. So schnell ich konnte rannte ich aus dem Tipi. Vor ihm war der Hengst meines Vaters angepfloggt. Er gebärdete sich wie toll und versuchte, sich los zu reißen. Mein Vater trug mir auf, auf ihn acht zu geben und lief mit den anderen in Richtung der Bodenwelle. Es waren auch einige junge Burschen dabei und ich war, wie du dir sicher vorstellen kannst, sehr unzufrieden damit, dass ich zurückbleiben und auf das Pferd aufpassen musste. Dennoch war es meine Pflicht meinem Vater zu gehorchen. Aus dem Verhalten der Pferde, Hunde und Männer schloss ich, dass es die großen grau-weißen Präriewölfe waren, die uns angriffen.

Ich schwang mich auf den Rücken des Hengstes, da ich nicht stark genug war, um ihn zu halten und er wohl einfach den Pflog herausgerissen hätte. Er war das Leittier unserer Herde und da die anderen nervös und ängstlich waren, wollte er zu ihnen, um sie zu beschützen. So wie ich es nun auch tun würde.“ „Würdest du auch einen Pflog herausreißen, Papa?“, frage ich mit einer Naivität, die nur ein Kleinkind zu Stande bringt. „Aber natürlich“, versichert er mir. „Soll ich weiter erzählen?“ „Jaaa!“, antworte ich begeistert.

„Ich kappte mit meinem Messer die Schnur, die ihn hielt und ließ ihn zur Herde galoppieren. Zutraulich wurde er dort begrüßt.

Die Männer kämpfte unterdessen bereits gegen die Raubtiere. Den Schreien entnahm ich, dass sie schon fünf Wölfe erlegt haben mussten. Mittlerweile hatten auch die Hunde Mut geschöpft und mischten sich in den Kampf ein.

Ich lenkte derweil den Hengst immer im Kreis um die Herde, als er plötzlich auskeilte und ich zwei glühende Augen im Gras erkennen konnte. Ich klammerte mich mit den Beinen an dem Pferd fest und versuchte den Wolf zu erschießen, der  an dem Mustang vorbei zu schleichen wollte, um in die Herde einzudringen. Den Pferden wurden, wie immer, am Vorabend die Vorderhufe gefesselt, damit sie nicht fliehen konnten. Jetzt jedoch waren sie dadurch vollkommen wehrlos. Eine furchtbare Verwirrung entstand in der Herde. Ich schoss einen Pfeil in die Richtung, in der ich den Wolf vermutete - verfehlte ihn jedoch. Das Raubtier sprang eine Stute an, die sofort versuchte, ihn abzuschütteln, indem sie sich zu Boden warf und wälzte.

Es war dunkel und ich hörte die Schreie der Kämpfenden. Ich sprang ab in der Gewissheit, dass der Hengst sich nicht von der Herde entfernen würde und zog mein Messer. Der Wolf wollte sich gerade im Hals der Stute verbeißen und achtete nicht auf seine Umgebung. Ich mutze diese  Gelegenheit, schlich mich an und stieß ihm mein Messer bis zum Heft in den Hals. Ich riss das Messer wieder heraus und stieß stolz einen Siegesruf aus.

Beinahe wäre es mir ergangen wie dem Wolf, denn ich war im Siegesrausch und bemerkte erst als es schon fast zu spät war, dass ich plötzlich einem ganzen Rudel Wölfen gegenüber stand. Das Rudel hatte sich geteilt. Der kleinere Teil lenkte die Krieger ab, während der größere unsere Pferde angriff. Sie hatten sich im Halbkreis um die Herde verteilt. Eigentlich hätten heute Tschetan und Schonka Wache bei den Pferden gehabt. Beide hatten es aber anscheinend vorgezogen, an der Anhöhe gegen die Wölfe zu kämpfen. Drei der Wölfe hatten sich bereits auf ein Pferd gestürzt und zerrissen es. Der Größte jedoch griff mich an. Ich konnte mich gerade so noch retten, indem ich auf den Hengst meines Vaters sprang, der nun doch beschlossen hatte zu fliehen. Erst nach etwa 50 Yardsn gelang es mir das Tier zu wenden.
Als die Herde wieder in Sicht kam, sah ich dass viele meines Stammes bei den Pferden waren und ihnen die Fesseln zerschnitten. Sie versuchten recht erfolglos ihre Flucht zu lenken, damit nicht noch mehr von ihnen umkamen.

Die Wölfe, die sich an den Pferden festgebissen haben, töteten sie mit allen Mitteln. Indem ich dem Drang des Hengstes, zu fliehen scheinbar nachgab, gelang es mir mit Hilfe einiger anderer, eine kopflose Flucht zu verhindern. Die Herde galoppierte in weitem Bogen zum Zeltlager zurück. Die Wölfe waren bereits geflohen und die Tiere hatten darum wenig Angst davor, zurück zu kehren.

Im ersten Licht des Tages sahen wir, dass zwölf Pferde von den Wölfen getötet worden waren. Neun weitere waren so schwer verletzt, dass sie getötet werden mussten. Fünfzehn waren geflohen. Wir hatten zuvor etwa 150 Pferde besessen. Nun hatten wir gut ein viertel von ihnen verloren. Für uns war dies ein schwerer Verlust, vor allem während einer Wanderung.

Ich pfloggte den Hengst meines Vaters an und ging im Lager umher, um mir die toten Wölfe anzusehen und die Spuren der nächtlichen Ereignisse zu verfolgen. Ich fand auch den Wolf, der durch mein Messer gestorben war und nahm, wie es üblich ist, die Ohren als Siegeszeichen. Danach erklärte ich meinem Bruder die Fährten, an denen man den Verlauf des Kampfes ablesen kann. Den Wolf, der mich fast getötet hätte, fanden wir nicht. Seine Spuren waren leicht zu erkennen - er war geflohen.

Als wir ins Tipi zurückkamen, waren dort bereits Tschetan*1 und Schonka*2, die von meinem Vater Mattotaupa*3 aufs Härteste gerügt wurden.

Ich aber hieß von diesem Tag an: Harka, Steinhart, Nachtauge, Wolftöter. ...“

 

D

 

Leise, kaum hörbare Schritte holten mich zurück in die Gegenwart. Die Schritte waren zwar so leise, dass sie vielen anderen, die nicht in der Wildnis aufgewachsen waren, entgangen wären, dennoch hatten sie nichts schleichendes an sich. Wer auch immer das ist, er scheint sich meiner nicht bewusst zu sein. Als die Schritte näher kommen, wird meine Vermutung, dass er sich in völliger Sicherheit wiegt, bestätigt. Er summt leise eine fröhliche Melodie  vor sich hin. Kurz darauf sehe ich einen Mann mit goldenen Haaren, der mit beschwingten Schritten auf mich zukommt. Der Goldschopf hat den Blick gen Himmel gerichtet und betrachtet in Gedanken versunken die Wolken. Als er mich bemerkt, bleibt er abrupt stehen und zieht sein Schwert.

„Wer seid ihr?“, verlangt er zu wissen. Um zu zeigen, dass ich ihn nicht angreifen werde, hebe ich die leere Rechte und antworte ruhig: „Mein Name ist Sureto.“ Mit leichter Verwunderung blickt er mich an. „Ihr habt einen Elbischen Namen, doch ihr seht nicht aus wie eine Elbin“, stellt er verwundert fest. Ich weiß zwar nicht, wie ich mir eine Elbin vorstellen soll, außer, dass sie spitze Ohren haben, aber sie werden bestimmt nicht mit Haaren, die an ein Vogelnest erinnern, mit verschmutzter, zerrissener Kleidung und ungewaschen umherlaufen.

„Ich bin eine Halbelbin“, antworte ich noch immer ruhig. „Darf ich euren Namen erfahren?“, frage ich nun meinerseits. Er mustert mich einen Moment abschätzend, ehe er antwortet: „Ich bin Glorfindel ó Gondolin.“

Der Name kommt mir bekannt vor, doch mir fällt nicht ein woher. „Kommt mit Lady!“, fordert er.

„Wohin bringt ihr mich?“, will ich, nun doch ein wenig nervös, wissen.

„Nach Imladris, zu Lord Elrond, Lady. Er wird entscheiden, was mit euch geschieht.“ Auch der Name >Elrond< kam mir bekannt vor.

„Nennt mich einfach nur Sureto, Lord Glorfindel ò Gondolin. Ich bin keine Lady – wie man sehen kann“, bitte ich ihn und deutete auf meine abgerissene Erscheinung. Er nickt lediglich und bedeutet mir, ihm zu folgen.

Ich weiß zwar immer noch nicht, wo genau er mich hinbringt, aber es wird dort besser sein als hier. Also folge ich ihm. Er hat sich bereits seine Tasche genommen und ist vorausgelaufen.

Nach einigen Stunden meint er, wir wären bald da. Mittlerweile höre ich wieder den Wasserfall, diesmal ist das Rauschen unverkennbar und laut. Allerdings habe ich nun auch immer öfter das Gefühl, beobachtet zu werden. „Lord Glorfindel“, mache ich ihn auf mich aufmerksam. Glorfindel sieht mich über die Schulter hinweg fragend an. Auf seinen Blick antwortend sage ich: „Ich glaube da ist jemand.“ Um meine Worte zu unterstreichen, deute ich mit den Augen in  Richtung der Baumkronen. Auf einmal beginnt er zu lächeln. Nun bin ich an der Reihe ihn fragend anzusehen. „Kaum jemanden, der nicht von ihnen wusste, hat je die Wachen bemerkt. Alle Achtung La… äh Sureto.“ Ich freue mich über das Lob, denn die Dakota gehen ausgesprochen sparsam mit ihm um

Wir schwiegen wieder eine Weile. Es dürften etwa zwei Stunden gewesen sein, dann weichen die Bäume langsam zurück und gaben den Blick auf eine breite Schlucht frei. Glorfindel geht zielstrebig auf den Abgrund zu. Zögerlich folge ich ihm. An der Kante angekommen bedeutet er mir, hinab zu schauen. Ich tue es… „Unglaublich“, hauche ich ehrfürchtig.

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