Kapitel 21

Die Ebene von Eriador

 

Einige Augenblicke nehme ich mir Zeit, um den Anblick des scheinbar endlosen braunen Meeres zu bewundern, das lediglich von ein paar kleinen Wäldern unterbrochen wird. Als eine Böe durch das Gras fährt, wiegen die Halme sich wie Wellen im Wind.

 

„Noro, mellon nin“ (lauf, mein Freund), flüstere ich Schotaker ins Ohr. Der Hengst macht einen kleinen Satz und galoppiert den sanften Hügel hinab. Auf der Ebene kann er endlich seine volle Geschwindigkeit entfalten.

 

Temperamentvoll  wirft er den gräulichen Hals zurück und wiehert laut vor Freude.
Erst als ich merke, dass sein Atem schwerer wird, zügle ich ihn ein wenig. Wenn auch unwillig gehorcht er und fällt in einen leichten Galopp.

 

Mit etwas Mühe hole ich die Karte hervor, die Erestor mir gab, und versuche abzuschätzen, wo ich mich grade befinde. Bis nach Khazad-dûm sind es noch etwa 180 Meilen. Ich überschlage im Kopf, wie lange ich dafür brauche, fünfzehn bis sechzehn Stunden vermutlich. Bis Sonnenuntergang bleiben noch sechs Stunden. Ich rechne mir gute Chancen aus, schon morgen das Hulsten-Tor zu erreichen, wenn wir unser jetziges Tempo beibehalten.

 

Die restlichen Meilen bis Sonnenuntergang legen wir in einem steten Wechsel von zügigem Galopp und kräftesparenden Trab zurück. Nur einmal machen wir an einem Bachlauf halt, wo Schotaker saufen und ich meine Trinkschläuche auffüllen kann.
Schließlich zwingt uns die einsetzende Dämmerung zum Halten. In einer Mulde finden wir etwas Schutz vor ungebetenen Besuchern und der Kälte, die den nahenden Winter ankündigt.

 

Ich nehme Schotaker den Sattel ab und lege ihn ins Gras. Sogleich beginnt der Hengst zu grasen. Auch ich esse etwas. Da ich es nicht wage, ein Feuer zu machen, dessen Schein meilenweit sichtbar gewesen wäre, muss ich mich mit Brot und Käse begnügen.

 

Ich lehne mich an den Sattel und rupfe einen Grashalm ab, den ich mir zwischen die Zähne stecke. Entspannt beobachte ich, wie der rote Feuerball sich dem Horizont nähert und schließlich verschwindet.

 

Dunkelheit breitet sich aus und nach und nach setzen die Geräusche der Nacht ein,

 

 die ich in Imladris so sehr vermisst habe. Das Zirpen der Grillen, der Schrei einer Raubkatze, das traurige Heulen eines Wolfes, der Flügelschlag der Nachtvögel und der Fledermäuse, dazu das leise Rascheln kleiner Tiere im Gras.

 

Ich erinnere mich an eines der Lieder, die mir meine Mutter vorgesungen hat als ich noch ganz klein war. Leise beginne ich zu singen:

 

Kola lecelecun wo, Kola lecelecun wo, Kola lecelecun wo.

 

Hecanuki nitunkasila waniyang u ktelo.

 

Canunpa wanji yuha ilatake ci.

 

Miksuya opagi yo.

 

Hecanuki taku yacinki iyecetu ktelo.

 

Kola lecelecun wo, Kola lecelecun wo, Kola lecelecun wo.

 

Hecanuki nitunkasila waniyang u ktelo.

 

Hocoka wanji yuha ilatake ci.

 

Miksuya opagi yo.

 

Hecanuki taku yacinki iyecetu ktelo.

 

Auch wenn diesmal nicht meine Mutter gesungen hatte, tat es doch gut, wieder einmal den Klang meiner eigenen Sprache zu hören. In Imladris gibt es leider niemanden, der den Dakotadialekt beherrscht, abgesehen von Erestor, der aber auch nicht mehr, als einige Wörter kennt.

 

D

 

Als ich am nächsten Morgen aufwache, ist Schotaker bereits auf den Beinen und grast in meiner Nähe. Gähnend strecke ich mich, ehe ich mich aufrapple und einen Schluck trinke. Schotaker, der das Wasser gewittert hat, kommt herüber, um seinen Anteil zu verlangen.

 

Ich halte ihm den Trinkschlauch so hin, dass er bequem einige Schlucke nehmen kann, dann verschließe ich den Trinkschlauch wieder und verstaue ihn in der Satteltasche.
Wenige Minuten später sind wir schon wieder unterwegs. Immer weiter Richtung Süden.
Schotakers leichte Erschöpfung vom Vortag ist vergessen. Mit weit ausgreifenden Sätzen jagt er über die gelbliche Ebene. Immer wieder muss ich ihn zügeln, damit er sich nicht zu sehr verausgabt, zum Trab muss ich ihn beinahe zwingen.
Dank des stürmischen Tempos, das der Hengst vorlegt, brauchen wir statt der geplanten zehn Stunden nur etwa neuneinhalb.

 

Ich zügle den Hengst noch mehr, bis er schließlich nach einem unwilligen Schnauben in Schritt fällt.

 

Ich würde gerne seinem Willen nachgeben und ihn weiter galoppieren lassen, doch ich muss nun nach der Treppe ausschau halten, die zum Hulsten-Tor führt. Erestor sagte mir, sie sei leicht zu übersehen, und so richte ich meine ganze Aufmerksamkeit auf die Felsen. Schließlich entdecke ich einen schmalen Spalt, den ich sicher übersehen hätte, hätte ich nicht genau danach gesucht.

 

Ich befehle Schotaker stehen zu bleiben und steige ab. Vorsichtig sehe ich mich in der Felsspalte um. Sie öffnet sich zu einem Tunnel, der direkt durch den Berg hindurch zu führen scheint und dann in einen schmalen Gebirgspass übergeht. Der Tunnel steigt die ganze Zeit stark an und so ist es nicht verwunderlich, dass sich der Pass in schwindelerregenden Höhen befindet.

 

Ein eisiger Wind fegt über den schmalen Spalt, der einen natürlichen Windkanal darstellt, und verfängt sich in dem zerklüfteten Fels. Fröstelnd ziehe ich den Umhang fester um meine Schultern. Dann nehme ich wieder die Zügel Schotakers und führe ihn weiter. Die einzigen Anzeichen von Vegetation sind einige vertrocknete Grasbüschel, die sich an den Felsen klammern.

 

Nach einer guten Meile endet der Pfad an einer Schlucht, über die sich eine massive, steinerne und bereits stark verwitterte Brücke spannt. Die Zwerge haben sie mit eckigen Mustern und Ornamenten geschmückt, dennoch fehlen die Eleganz und Schönheit, an die ich mich in der Zeit, in der ich in Imladris wohnte, gewöhnt habe. Nach kurzem Zögern führe ich Schotaker auf die andere Seite. Auch ihm scheint die Umgebung unheimlich zu sein, dank der hoch aufragenden, steilen Felswände, dem See, über dem wabernder Nebel liegt und den abgestorbenen Bäumen, deren Äste wie Knochenfinger in die Höhe ragen. Alles ist in einem geisterhaften Grau, nur zwei Farbkleckse gibt es in Form von zwei Bäumen, deren Laub sich herbstlich bunt gefärbt hat. Sie wirken so fehl am Platz, als kämen sie aus einer anderen Welt. Einer zauberhaften, farbenreichen, fröhlichen Welt.

 

Der größte Teil des Plateaus wird von dem See eingenommen um den nur ein schmaler Pfad herumführt.

 

Die bereits merklich nach Westen gewanderte Sonne schafft es kaum, ihre wärmenden Strahlen bis hierher zu schicken, die kläglichen Reste, denen es gelingt, bis zu diesem Ort durchzudringen, tauchen den See in ein unheimliches Zwielicht.
Vorsichtig umrunden Schotaker und ich den See. Der sonst so mutige Hengst drückt sich nervös, beinahe ängstlich an mich.

 

Sorgfältig untersuche ich die schroffe Felswand, aber es ist nur nackter, simpler Fels. Ich bin kurz davor frustriert aufzuschreien, als mir Erestors Worte in den Sinn kommen: …die verborgene Tür ist nur bei Sternen- und Mondlicht sichtbar, da sie aus Ithildin besteht, das Losungswort ist Freund.

 

Erleichtert seufze ich bei dieser Erkenntnis auf, dass ich einfach nur bis Sonnenuntergang warten muss und mich nicht verirrt habe. Bleibt nur noch die Frage, was ich bis dahin tun soll.

 

Als erstes nehme ich Schotaker den Sattel ab und schärfe ihm ein, bloß nicht aus dem See zu trinken, da ich mich noch an Erestors Worte erinnere: Gib Acht, im Wasser lebt ein Wächter, schrecke ihn bloß nicht auf. Nun, das habe ich definitiv nicht vor und so, wie Schotaker sich an mich drückt, wird er wohl ebenfalls kaum etwas Dahingehendes unternehmen.

 

Aus einer der Satteltaschen krame Feder, Tinte und ein in Leder gebundenes Büchlein hervor – mein Tagebuch. Ich habe mir schon seit ich Maglors Tagebuch gelesen habe vorgenommen, meine Erlebnisse festzuhalten. doch es gab bisher nur recht selten etwas Interessantes, das ich hätte aufschreiben können.

 

Ich überlege, wie ich anfangen soll, es widerstrebt mir einfach damit anzufangen, dass ich vor Khazad-dûm stehe- beziehungsweise sitze – und warte, bis die Sonne endlich unter geht.

 

Ich entscheide mich dafür, am Anfang anzufangen, als Asmund Amundssohn uns von dem erstarken Mordors und der Sichtung eines Balrogs berichtete. Ich halte die darauffolgenden Ereignisse in einer chronologischen, teils mit Datum versehenden Liste fest. Das Dorf, das der Balrog zerstört hat und die Entführung der Bewohner. An das Ende meiner List setze ich den Angriff auf Alphmorn, der alles ins Rollen gebracht hat und den Rat. Erst dann beginne ich mit dem eigentlichen Tagebuch, in dem ich sorgfältig jede Etappe meiner Reise festhalte.

 

Grade, als ich das Tintenfass zuschraube und die Feder reinige, geht die Sonne in einem spektakulären Schauspiel unter, als ein rotglühender Feuerball versinkt sie langsam hinter den schwarzen Silhouetten der Berge. Nun erhellen nur noch der Mond und die Sterne das Land.

 

Auf der Felswand direkt neben mir beginnen feine Linien zu leuchten. Fasziniert betrachte ich sie. Sie stellen eine Art Tor mit zwei Säulen dar, neben denen Bäume stehen, die mit ihren silbernen Ästen die Säulen umfangen. Diese stützen einen Torbogen, in den Elbische Buchstaben eingraviert sind:

 


Die Türen Durin, des Herrn von Moria.

 

Sprich Freund und tritt ein

 


Darunter steht in kleineren Buchstabeben:

 

Ich, Narvi, baute sie

 

Celebinbor von Hulsten

 

Schrieb diese Zeichen

 

Unter den Ästen prangt zwischen den Bäumen ein großer Stern und über den Bäumen befindet sich ein Hammer samt Amboss, darüber wiederum schimmert eine Krone, umgeben von sieben kleineren Sternen. Das Kunstwerk wäre auch dann als elbischen Ursprungs zu erkennen gewesen, wenn der Künstler, Celebinbor, sich nicht darauf verewigt hätte und er statt Elbischen Zwergische Schriftzeichen genutzt hätte.

 

So gern ich den Anblick des leuchtenden Bildes weiter bewundert hätte, ich muss weiter.
Muss man das Losungswort irgendwie speziell sagen? Irgendeine Betonung, Bewegung oder ähnliches? Erestor hat nichts in der Richtung erwähnt.

 

„Mellon“ (Freund) versuche ich es mit bedeutungsschwerer Stimme. Ein paar Augenblicke geschieht nichts und ich überlege, was ich falsch gemacht haben könnte, doch dann öffnet sich plötzlich ein Tor in der Wand, die zuvor ausgesehen hatte, wie massiver Fels, in dem nicht der kleinste Riss auf eine Tür hingedeutet hatte. So etwas zu bauen, muss ein unglaubliches Geschick erfordert haben.
Ich spüre die Präsenz Schotakers neben mir lege ihm, ohne meinen Blick von dem finsteren Loch in der Wand abzuwenden, die Hand auf den Hals.

 

„Gehen wir“, raune ich ihm auf Elbisch zu. Er zögert kurz ehe er mir folgt.

 

Vollkommene Dunkelheit umfängt uns, in der sich nur langsam Konturen abzeichnen. Von weit Entfernt dringen die Geräusche zu uns, die in Imladris nur Angreninaurs Schmiede erfüllen, und der Klang von Stimmen zu uns.  

 

„Was führt eine Elbin nach Khazad-dûm?“, fragt eine tiefe, etwas raue Stimme aus dem Dunkel. Ich zucke leicht zusammen, ich hatte gar nicht bemerkt, dass da noch jemand ist.

 

Nach außen hin ganz gelassen verbeuge ich mich leicht vor dem Männlein, das aus dem Dunkel tritt.

 

Er geht mir grade mal bis zur Brust. Von seinem Gesicht kann ich nur die Augen und die Knollennase erkennen, der Rest wird von einem wild wuchernden, dunkelblonden Bart verdeckt, den er sich in den Gürtel gesteckt hat. Trotz seiner geringen Größe wirkt er bedrohlich, was zum einen an seinem Kettenhemd, dem Helm und der Rüstung liegt, zum anderen aber auch an seiner kräftigen Statur.

 

„Mein Name ist Sureto Tokei-ihtosell, Lord Elrond schickt mich mit einer dringenden Botschaft für Durin III hierher.“

 

Misstrauisch mustert er mich. „Was ist so wichtig, dass der Halbelb einen Boten schicken muss?“

 

„Es geht um Sauron.“ Diese Aussage genügt, um ihn zu überzeugen.

 

„Folgt mir!“, befiehlt er knapp geht mit klirrendem Kettenhemd voran, so dass mir nichts anderes übrig bleibt, als ihm mit Schotaker im Schlepptau zu folgen.

 

„Mein Name ist übrigens Gorim“, knurrt er nach einer Weile, ohne mich dabei anzusehen.
„Es ist mir eine Freude, euch kennenzulernen“, antworte ich seinem Rücken höflich.

 

D

 

Als der Hund die Augen öffnet, ist der Mann bereits wach. Er macht irgendetwas, doch der Hund kann nicht erkennen, was er tut, es interessiert ihn allerdings auch nicht wirklich.

 

Schließlich ist der Mann fertig. Er steht auf, klopft seine Hose ab und pfeift leise nach seinem treuen Gefährten. Sogleich steht dieser neben ihm und blickt erwartungsvoll zu ihm auf.

 

Sanft krault der Mann ihn hinter dem Ohr, dann geht es weiter.

 

Lange wandern Mensch und Hund durch die Ödnis aus Schnee und Stein, ohne dass etwas geschieht, doch dann flitzt plötzlich ein Schneehase vorüber.

 

Sofort hetzt der Hund hinter ihm her. Hakenschlagend versucht das Tierchen zu entkommen, doch es hat gegen den großen, wolfsähnlichen Hund nicht die geringste Chance. Mit einem wuchtigen Schlag seiner großen Pfote bricht der Hund dem Hasen das Genick. Kurz zucken noch die Pfoten des Hasen, dann liegt er still.

 

Am liebsten hätte der Hund ihn sofort hinuntergeschlungen, doch er packt ihn vorsichtig im Nacken und bringt ihn zu seinem Herren, der reglos auf seinen tierischen Freund gewartet hat. Der Hund legt seine Beute zu Füßen des Menschen ab und weicht einige Schritte zurück.

 

Der Mann zieht ein Messer und trennt einen kleinen Teil des Fleisches ab, das er sorgfältig verpackt und in seiner Tasche verstaut. Den Rest überlässt er dem Hund, der gierig darüber herfällt und ihn verschlingt.

 

Nun fühlt sich der Hund viel besser. Der Hase liegt ihm angenehm schwer im Magen, der Pfad ist nicht mehr so steil, es bohren sich keine unter der Schneedecke verborgenen Steine mehr in seine Sohlen und wärmer ist es auch. Beinahe übermütig trabt er neben seinem Herren her.

 

Unvermittelt bleibt der Mann stehen, er hat etwas gehört. Auch der Hund stellt horchend die Ohren auf – nicht weit entfernt fließt ein Fluss.

 

Die Beiden gehen weiter, schneller als zuvor. Das Geräusch des Wassers beschleunigt ihre Schritte, auch wenn sie es nicht bewusst wahrnehmen.